
Die industrielle Nutztierhaltung ist ein Auslaufmodell, sagt der Geophysiker und Lebensmittelwissenschaftler Kurt Schmidinger – und erklärt die Welt von morgen
Interview: Beate Förster
FOTOS: © WWW.IMAGESOURCE.COM; PR; ILLUSTRATIONEN: ANDREA KUNTZE
Umweltschutz, Welternährung, Tierethik: Für den österreichischen Ernährungsforscher Kurt Schmidinger (46) gibt es viele Gründe, die für den Umstieg auf vegane Ernährung sprechen. Im Vegan für mich-Interview erklärt er die Probleme der industriellen Nutztierhaltung und das enorme Potenzial der Fleisch-, Milch- und Ei-Alternativen

Warum beschäftigst du dich seit deiner Dissertation mit Alternativen zu Tierprodukten?
Schon in den 90er-Jahren hatte ich die Idee, dass wir die Probleme, die die weltweite Massentierhaltung mit sich bringt, erst lösen, wenn wir Alternativen schaffen. Als dann um die Jahrtausendwende das Internet und die Suchmaschinen groß geworden sind, war ich überrascht – hey, da haben ja viele andere Köpfe weltweit den genau gleichen Gedanken! Sogar Winston Churchill hat 1931 schon prophezeit: „Wir sollten uns lösen von der Absurdität, ein ganzes Huhn großzuziehen, nur um Brust und Flügel zu essen, wir sollten das lieber separat in einem passenden Medium züchten.“ Technologie als Lösung für ethische Probleme – ich war also gar kein so einsamer Visionär mit meiner Idee, und längst nicht der erste (lacht).
Was sind genau die Probleme hinter Tierprodukten?
Eines der Grundprobleme ist die Ineffizienz, die verlängerte Nahrungskette, weil wir zwischen Pflanze und Mensch 65 Milliarden Nutztiere reinzwängen. Die verbrauchen den größten Teil der Futterkalorien für ihren eigenen Stoffwechsel und machen aus Nahrung damit in erster Linie Gülle. Wir produzieren derzeit aus 7 Kalorien Getreide und Soja über den Umweg Tier eine Kalorie Fleisch, eine knappe Kalorie Schlachtabfälle und fünf Kalorien Exkremente. Auf einem Drittel der Ackerflächen weltweit produzieren wir also mittlerweile Exkremente, und dafür brennen wir Regenwälder nieder, lassen Menschen hungern.
Welchen Flächenbedarf hat die Nutztierhaltung weltweit?
Zwei Drittel der von Menschen genutzten Flächen sind nur für die Erzeugung von Tierprodukten da, auf dem restlichen Drittel unserer genutzten Fläche wohnen wir, arbeiten wir, fahren wir, produzieren wir all unsere restlichen Lebensmittel, haben wir unsere Lagerstätten, Industrie. Konkret: 80 Prozent der vom Menschen genutzten Flächen (exklusive Forstwirtschaft) ist Landwirtschaft, davon wiederum 80 Prozent für die Tierhaltung. Großteils sind das Weideflächen, aber auch auf 40 Prozent der Ackerflächen wird Tierfutter angebaut, weltweite Tendenz noch immer steigend.
Was war an deiner Studie von 2012 zur Ökobilanz tierischer Lebensmittel neu?
Zusätzlich zu den Emissionen aus der Produktion der Lebensmittel wird nun auch der Flächenverbrauch der Produktion erfasst. Nicht nur die Emission von Treibhausgasen wie Methan, CO2 oder Lachgas wird einbezogen. Berücksichtigt haben wir nun auch die potenzielle Zunahme der CO2-Belastung durch umfunktionierte Flächen – etwa Weideareal oder Futteranbauflächen. Der große Bedarf an entsprechenden Nutzflächen verhindert, dass auf diesen natürliche Wälder und Sträucher nachwachsen können: Diese würden – wären sie vorhanden – wiederum durch ihr Wachstum CO2 wie ein Schwamm aus der Atmosphäre aufnehmen und damit das Weltklima entlasten.
Zu welchen Ergebnissen kommt deine Studie von 2012?
Die Erzeugung von Tierprodukten wird durch diese Erweiterung der Methodik noch gewichtiger. Beispielsweise im Vergleich zum Autoverkehr, dessen Flächenverbrauch im Vergleich zur Landwirtschaft minimal ist. 1 kg brasilianisches Rindfleisch kann dann im schlimmsten Fall eine Klimabilanz haben wie eine 1.600 km lange Autofahrt mit einem durchschnittlichen europäischen Pkw. Die Produktion eines Kilogramms Tofu erzeugt mit der erweiterten Methodik 3,8 kg CO2, das entspricht umgerechnet etwa 19 gefahrenen Autokilometern. Fleisch, im konkreten Fall Hühnerfleisch, kommt im Minimum auf das doppelte von Tofu, in der Regel aber deutlich mehr.
Was ist noch an der industriellen Nutztierhaltung zu kritisieren?
Die industrielle Nutztierhaltung ist der größte Wasserverbraucher, Wasserverschmutzer, Regenwaldzerstörer, Artenvielfaltzerstörer und Flächenverbraucher der Erde. Zudem einer der größten Klimakiller und ein Hauptfaktor für Bodenerosion. Sie vernichtet durch die Verlängerung der Nahrungskette pro Kopf und Jahr in Deutschland gut 700 kg an Lebensmitteln, die von den Nutztieren als Gülle ausgeschieden werden. Ihre Produkte fördern – in hunderten Studien belegt – Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Diabetes-Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie gefährdet unsere Zukunft durch die mögliche Entstehung globaler Seuchen und die Entstehung resistenter Bakterien durch den massiven Antibiotikaeinsatz, ohne den diese Form der Tierhaltung sofort kollabieren würde. Und: Sie degradiert Milliarden fühlende Lebewesen zu Produktionseinheiten und schafft immenses Leiden unter Milliarden von Tieren.
Aber wie sieht es mit artgerechter Tierhaltung auf der Weide aus? Ist sie eine gute Alternative?
Die reine Weidehaltung ist die einzige Form der Nutztierhaltung, die keine Kalorien vernichtet. Sie hat nur einen Teil der oben genannten Nachteile. Aber sie liefert nicht mal mehr zehn Prozent der aktuell verzehrten globalen Fleischmenge, Tendenz rückläufig. Und die Weidehaltung ist weltweit limitiert, also wenn überhaupt, dann nur eine Randoption für die Ernährung der Zukunft. Steinzeit-Ernährung hat eben recht und schlecht in der Steinzeit funktioniert, aber heute mit einer etwa tausendfachen menschlichen Weltbevölkerung ist sie Illusion. Wir brauchen heute viel intelligentere Strategien für die Ernährung der Zukunft.


Was ist unter dem Begriff Klima-stabilisierungskosten zu verstehen, und welche könnte eine vegane Ernährung einsparen?
Das sind die Kosten, um die Treib-hausgas-Konzentration in der Atmosphäre auf einem definierten Level zu halten. Diese Kosten gelten heute als unfinanzierbar. Die „Netherlands Environmental Assessment Agency“ NEAA hat 2008 berechnet, dass eine Reduktion von Tierprodukten die weltweiten Klimastabilisierungskosten bis 2050 um 50 Prozent reduzieren könnte, eine weltweite vegane Ernährung sogar um 80 Prozent. Im veganen Szenario wäre das eine Reduktion der Kosten von 40 Billionen auf etwa 8 Billionen US-Dollar, wenn man deren Studie „Climate benefits of changing diet“ genau analysiert.
Mit welchen Zukunftsvisionen beschäftigst du dich für dein Portal futurefood.org?
Erstens pflanzliche Alternativen zu Fleisch, Milch und Eiern, das ist das, was wir schon kennen, und was in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung hinlegt. Zweitens gezüchtetes Fleisch ohne Tiere, also „cultured meat“ aus Zellen, die außerhalb vom Tier in Nährmedien wachsen. Daran wird geforscht. Und dann gibt es drittens weitere Ideen, die derzeit noch brach liegen, wie das Konzept, aus Zellulose, also z. B. Ernteabfällen, direkt über Mikroorganismen für uns Essbares zu produzieren. Das wäre eine Simulation dessen, was in den Vormägen der Wiederkäuer passiert. Peter Arras von der „Aktion Konsequenter Tierschutz“ ist hier ein Visionär und nennt das „Biofermentation“.
Wie könnte die klügste Zukunft unserer Ernährung aussehen und welche Förderer gibt es?
Kluge und einflussreiche Köpfe arbeiten bereits gemeinsam an Alternativen zur industriellen Nutztierhaltung, Bill Gates beispielsweise unterstützt die veganen Startups „Beyond Eggs“ und „Beyond Meat“, Google-Mitbegründer Sergey Brin hat für Mark Post und sein Team die Entwicklung des ersten Burger aus „cultured meat“, also aus Zellkulturen, finanziert. Der PayPal-Gründer Peter Thiel hat dem Startup „Modern Meadow“ auf die Beine geholfen, das sich mit Fleisch aus dem Bioprinter beschäftigt, mittlerweile aber noch mehr mit echtem Leder aus Zellkulturen. Die mächtige Fleischlobby ist gespalten: Die einen kaufen sich in diesen neuen Markt mit ein, die anderen bekämpfen ihn noch, und gehen damit wohl unter, wenn sie nicht rechtzeitig umdenken. Wie genau die klügste Zukunft unserer Ernährung aussieht, werden wir alle erst entscheiden – jedenfalls ohne industrielle Tierhaltung.
Du kennst Wissenschaftler, die In-vitro-Fleisch züchten. Wie weit ist da die Forschung?
In-vitro-Fleisch, oder „cultured meat“, wie ich es zuvor genannt habe, wurde ja schon produziert, aber noch viel zu teuer für den Markt. Mark Post plus Team in den Niederlanden hat 2013 den ersten „cultured meat“-Burger produziert, „Memphis Meats“ in Kalifornien 2016 einige „cultured meat“-Fleischbällchen. Neben diesen beiden und „Modern Meadow“, die ich schon erwähnt habe, gibt es noch zwei neue Teams in Israel. Dazu noch „Muufri“ aus den USA mit dem Ziel, Kuhmilch ganz ohne Kuh herzustellen, und „Clara Foods“, die dasselbe mit Eiern ohne Huhn probieren. Alles steckt noch in der Erforschungsphase. Wann und ob es jemals billig genug hergestellt werden kann, um Tierprodukte zu ersetzen, werden wir erst sehen. Pflanzliche Alternativen sind da schon viel weiter.
Gutes Stichwort – welches Marktpotenzial haben Alternativen von Fleisch, Milch und Eiern?
Im Idealfall ersetzen Sie die Tierprodukte in absehbarer Zeit komplett, vielleicht bis auf die zehn Prozent der derzeitigen Gesamtproduktion, die aus extensiver Weidehaltung stammen. Das Marktpotenzial ist jedenfalls enorm, theoretisch annähernd so groß wie der gigantische Markt an Tierprodukten weltweit.
Welche Entwicklungen stehen bei veganen Lebensmitteln noch bevor?
Die Vielfalt der Innovationen ist riesig. Schau dir mal die Konzepte hinter der „Not Company“ oder hinter „Impossible Foods“ im Internet an – nur zwei Beispiele für die Vielfalt an Innovation im Bereich der pflanzlichen Alternativen zu Tierprodukten.
Welche Bedeutung haben Ernährungswissenschaften im Medizinstudium heute?
Kaum eine. Deshalb sollte man bei Ernährungsfragen auch nicht unbedingt Ärzte fragen, außer die haben sich speziell, und weit über ihr Medizinstudium hinaus, mit Ernährung befasst. Innovative Ernährungswissenschaftler oder auch Lebensmittelwissenschaftler/innen sind da die bessere Wahl.
Seit wann ernährst du dich selbst vegan?
Endgültig seit kurz nach der Jahrtausendwende. Davor war ich zehn Jahre vegetarisch mit stark veganen Tendenzen. Übrigens, meine Blutwerte sind sehr gut – falls jemand Zweifel hat (lacht).
DR. KURT SCHMIDINGER
... studierte Geophysik an der Universität Wien und promovierte in Lebensmittelwissenschaften an der Universität für Bodenkultur Wien. Er betreibt das Portal futurefood.org, das über Alternativen zu tierischen Produkten informiert.
„Zwei Drittel der von Menschen genutzten Flächen sind nur für die Erzeugung von Tierprodukten da“