
Vegan und Ausdauersport, geht das? Und ob! Im ersten Teil dieser neuen Reihe erklärt Ultraläufer Christian Bruneß, weshalb ihn das Laufen als Veganer erfüllt und stärker macht
von Christian Bruneß
FOTO: FLORIAN SCHMIDT

Über sieben Brücken und noch viele mehr
läuft Christian Bruneß. Und läuft und läuft ...
Bis zum großen Verpflegungspunkt bei Kilometer 71 und dann sehen wir weiter, versichere ich mir mantraartig. Jetzt, etwa sechs Stunden nach dem Start des Berliner Mauerweglaufs dämmert mir, worauf ich mich zusammen mit rund 300 anderen Läuferinnen und Läufern eingelassen habe. Nämlich auf 100 Meilen, etwa 160 Kilometer, fast vier Marathons am Stück. Es geht in einem großen Kreis um das ehemalige West-Berlin, immer entlang des Mauerwegs an der früheren innerdeutschen Grenze. An den Verpflegungsstellen gibt es alles, was das Läuferherz begehrt – Kuchen, bunte Süßigkeiten, Müsliriegel, salzige Brühe, mit Wurst und Käse belegte Brötchen. Allerhand Leckereien, die ich mir, wenn ich mich nicht seit Jahren vegan ernähren würde, in Windeseile in rauen Mengen und ohne Sinn und Verstand einverleibt hätte. Ich halte mich an die Salzstangen, greife eine gekochte Kartoffel und eine Banane und trinke einen Becher Wasser. Dann geht es weiter. Die Hälfte ist ja fast geschafft. Sinn und Verstand, zwei Begriffe, die mir nicht wenige Menschen aufgrund meiner Vorliebe für Veranstaltungen wie diese in Abrede stellen würden. Manchmal kann ich sie verstehen.
ausdauersport und veganes leben: zwei veränderungen auf einmal
Für mich persönlich ist der Ausdauersport eng mit dem Veganismus verbunden, verknüpft, verflochten. Beides trat 2012 ungefähr zeitgleich in mein Leben. Schon nach meinen ersten Laufversuchen spürte ich: Laufen ist viel mehr als ein Sport. Als echter Spätstarter bemerkte ich große Veränderungen in und an mir. Ich wurde ausgeglichener und zufriedener, fühlte mich verbunden mit meiner Umgebung, wenn ich bei jeder Witterung an der frischen Luft trainierte. Ich wollte immer mehr laufen. Dreimal die Woche, viermal die Woche, jeden Tag, manchmal sogar mehrmals am Tag. Es wurde zu einem Lebensstil und einer Philosophie. Ähnlichen Enthusiasmus empfand ich, als ich mich dazu entschlossen hatte, von nun an vegan zu leben. Auch hier war der Entschluss für eine vegane Ernährung mehr als eine bloße Ernährungsumstellung. Es wurde schnell zu einer grundsätzlichen Haltung und Lebenseinstellung, die dem Alltag schlagartig mehr Sinn und Bedeutung verlieh. Jeder Einkauf im Supermarkt, jeder Besuch in einem Restaurant wurde zu einer Art veganer Schnitzeljagd. Wer hätte gedacht, dass ein Einkauf so viel Spaß machen kann?
Diese Neugierde und Abenteuerlust empfinde ich sowohl beim Laufen als auch beim Essen. Ein Abenteuer muss nicht unbedingt auf den Gipfel des Mount Everest führen. Es kann direkt vor der Haustür beginnen. Oder in der Küche – die Zubereitung einer pflanzlichen Lasagne kann eine gehörige Portion Nervenkitzel auslösen und extrem viel Spaß machen.
Die Lust am Unbekannten und die bewusste Entscheidung nicht aufzugeben, das sind Charaktereigenschaften, die im Ausdauersport geschult werden und in vielen anderen Lebensbereichen helfen können. Auch beim Abenteuer Veganismus. Zusätzlich bemerkte ich, dass mir das Zusammenspiel von Sport und Ernährung sehr gut bekam. Viele meiner Läufer-Idole (Scott Jurek, Michael Wardian, Sage Canaday, Carl Lewis u. a.) machten es vor: Pflanzliche Ernährung und sportliche Höchstleistungen, das passt zusammen. Die Kombination ist für mich die ultimative Selbstverwirklichung. Die Gewissheit, im Training und im Wettkampf für meine Werte und Überzeugungen zu stehen, gibt mir eine große mentale Stärke.
der kopf ist der härteste gegner – und der wichtigste verbündete
Nach dem ersten Halbmarathon 2013 kam der Marathon. Nach dem Marathon kam mein erster Ultramarathon mit einer Länge von 100 Kilometern. Dabei ging es mir nicht in erster Linie um eine schnelle Zeit oder eine gute Platzierung. So einen Wettkampf läuft man, wenn man nicht gerade zur absoluten Spitzenklasse gehört, nicht gegen andere. Der größte und hartnäckigste Konkurrent auf einer so langen Strecke ist man selbst, der eigene Kopf. Gleichzeitig ist der Kopf auch der wichtigste Verbündete. Am Ende ist es das pausenlose emotionale Auf und Ab, das Zweifeln und Glauben an sich selbst, das Erleben der ganzen Bandbreite menschlicher Emotionen. Das ist Ultralaufen. Das berühmte „Warum" wird, je länger ein Lauf (oder eine beliebige andere monotone Aktivität) geht, immer wichtiger. Sei es im Sport, im Alltag oder im Beruf. Man braucht schon sehr gute Beweggründe dafür, nicht aufzuhören, wenn man nach 16 Stunden Laufen, mitten in der Nacht und im Nieselregen, völlig entkräftet feststellt, dass es noch immer mehr als 40 Kilometer bis ins Ziel sind.
läufe und grillfeiern: nicht so schwierig wie befürchtet
Genauso ist es nicht immer leicht, den nicht-veganen kulinarischen Verlockungen zu widerstehen. Aber es geht, wenn man es wirklich will. Und wenn man dann schließlich nach 160 Kilometern über die Ziellinie trabt oder die Herausforderung einer Grillfeier im Freundeskreis gemeistert hat (und feststellen musste, dass man nächstes Mal die zehnfache Menge an Tofu-Gemüsespießen mitbringen sollte), dann stellt man vielleicht zufrieden fest: Es war gar nicht so schwer wie befürchtet. Und dass man mit jedem Mal sicherer und selbstbewusster wird. Wenn mich jemand fragt, warum ich lange Strecken laufe oder vegan esse, dann habe ich eine Handvoll sehr guter Gründe parat. Im Zweifelsfall antworte ich mit einer einfachen Gegenfrage: Warum nicht?
// STECKBRIEF //
Name: Christian Bruneß
Beruf: Journalist, Lauftrainer
Alter: 34
Wohnort: Köln
Website: rununity.de