Wie ein Bergführer sein Leben verändert, seine Traumfrau findet, eine außergewöhnliche Hochzeit feiert und Menschen und Tiere glücklich macht.
von Ulrich Bender
Ich war noch etwas wacklig im Kopf und auf den Beinen, schließlich hatten uns die kräftigen Auf- und Abstiege des ersten Tages unserer Alpin-Tour reichlich zu schaffen gemacht und gestern, als ich in Bozen angekommen war, hatte ich mir die Stadt und ihre Umgebung mindestens zweimal erwandert, um abends völlig erschöpft ins Bett der Jugendherberge (sehr zu empfehlen!) zu krachen. Heute Abend war es dann soweit: Mein Körper gab mir das klare Signal, dass ich es nur noch bis zum Grill schaffen würde. Eventuell auch zurück. Aber um die Treppen hinauf ins Schlafgemach robben zu können, würde ich auf einige leckere Bierchen angewiesen sein.
Ich stand auf, kroch nach draußen in die klare Abendluft, betrachtete den knackprall gefüllten Grill mit der einem vegan lebenden Menschen gebührenden Verachtung, sah über die mit auf Riesentellern haushoch aufgeschichtetem Grillgut bewaffneten Mitwanderer hinweg und widmete mich dem Üblichen: Salat und Pommes. Zurück auf meinem Platz erntete ich die erstaunten Blicke unseres neben mir sitzenden Bergführers Carsten. „Kein Fleisch?“ – „Nö“, antworte ich knapp. Ich war müde und wollte meine Fleischverweigerung nicht thematisieren, um anschließend den Rest unserer gemeinsamen Zeit über die Pros und Cons der veganen Lebenshaltung diskutieren zu müssen. Das merkt bestimmt keiner in der Gruppe, dass ich keine Tierprodukte esse, hatte ich mir gedacht.
In den ersten drei bis fünf Jahren des veganen Lebens ist ein Hang zur Debattierfreudigkeit rund ums Thema Ernährung bei Veganern keine Seltenheit. Ab einem Tag X wird das
ständige Wiederkäuen der ewig gleichen Argumente allerdings zur Last. Ich habe diesen Tag X schon lange hinter mich gebracht und versuche seither, so wenig wie möglich Angriffsflächen gegen das
Vegansein zu bieten, es sei denn, dass ich mittel bis stark angetrunken bin und dann glaube, einen veganen Kreuzzug führen zu müssen.
Carsten blieb seltsam gelassen und fragte mich, was ich denn sonst noch essen würde. Süßigkeiten, hörte ich mich sagen, gerne Schokolade und flauschige Desserts – aber alles ohne Tiere. Nun war’s raus. Jetzt gab es kein Zurück. Carsten blieb dennoch völlig entspannt. Kräftige Biere wurden gereicht. Ich glaube, es gab noch ein nicht näher definiertes Dessert, das ich großzügig in der Gruppe verlosen konnte. Wir werden im Anschluss entspannt, aber unkonzentriert über Essen, Trinken und unseren Planeten philosophiert haben, bevor sich ein finaler Nebel über meine Augen senkte. Während ich die Stiegen zur Schlafkammer hinaufkroch, wunderte ich mich darüber, dass es einen Bergführer gibt, der es schafft, noch nicht mal eine beleidigende Bemerkung zum Thema Pflanzenfutter loszutreten. Wenigstens ein „Wenn du das morgen schaffen willst, solltest du besser ein paar kräftige Proteine zu dir nehmen“ oder so was in der Richtung hätte er mir mitgeben können. Das Gegenteil war der Fall. Carsten war ernsthaft an meinen Beweggründen interessiert.
Die folgenden Tage waren wunderbar anstrengend und total entspannend. Dem Wetter mussten wir eine glatte Eins geben und die Landschaft war sowieso fantastisch. In sieben Tagen von Bozen nach Trient. Eine Traumtour. Wenn ich nicht gerade stolperte, aus der Puste kam, nach einem Bär Ausschau hielt oder mich mit einer Spontanmeditation stärkte, tauschte ich mit Carsten gemeinsame Interessen aus. Ihm fehlte damals nur noch der letzte Schritt, um seine bio-omnivore Lebensweise zu beenden, wie er mir später offenbarte.
Dass ich der Auslöser für sein späteres veganes Leben sein sollte, wusste ich damals nicht, macht mich aber im Nachhinein sehr glücklich. Ich erinnere mich noch an den letzten gemeinsamen Abend: Alle Schranken im Hinblick auf das Verständnis der Gruppe zu meiner veganen Lebensweise waren mittlerweile gefallen, als ich, wie die Abende zuvor, im Restaurant um eine tierleidfreie Variante des Abendessens bat. Ich war nicht wirklich überrascht, dass sich Carsten der Bestellung anschloss. Mutig, aber konsequent, wie der Bergführer ein Zeichen setzt. Das wird dauerhaft problematisch, dachte ich, sind doch fast alle Bergführer und Bergwanderer in den Hochburgen des Fleischkonsums und traditionell auch als deren Botschafter unterwegs. Bayern, Österreich, Südtirol. Fleischland. Ich vermute, dass nur noch in Spanien und Argentinien mehr Tiere an Menschen verfüttert werden.
Fast zwei Jahre später, als uns Carsten zu seiner Hochzeit ins Mahdtalhaus im Kleinwalsertal einlädt, sind meine Frau und ich ordentlich aus dem Häuschen: unsere erst vegane Hochzeitsfeier. Auf der Alm. Unglaublich. Wahrscheinlich lassen sich die veganen Hochzeiten, die täglich weltweit gefeiert werden, locker an einer Hand abzählen.
Carsten hatte sich nach unserer gemeinsamen Wanderung auf dem E5 endgültig zur veganen Lebenshaltung entschlossen und lebt sie fortan konsequent aus. Im Allgäu. Was wesentlich schwieriger ist, als z.B. als Veganer in Berlin zu leben. Von einem Bergführer wird von der ihm anvertrauten Gruppe eine gewisse sportliche Vorbildfunktion erwartet, was wiederum bedeutet, dass die meisten Bergsteiger oder Bergwanderer ohne im Ein-kräftiges-Frühstück-, Eine-saugute-Brotzeit- und Ein-deftiges-Abendbrot-Modus zu sein, erst gar nicht zum Start ihrer Tour antreten würden. Und dann haben sie mit Carsten einen durchtrainierten Veganer im Berg, der ihnen den Appetit vermasselt und keine Kasspatzen, keine Krainer, keine Weißwurscht, keine Fleischknödel und sonstiges Tierleid verzehrt, ja sogar auf die morgendliche Milch und das stärkende Ei verzichtet.
Und auf den Speck. Ja, der Speck. Das Synonym für kerngesunde Bergfexe, für Kraft, Ausdauer, triefendes Fett und herzhaften Geschmack. Ich habe auf den meisten Hütten, in denen ich einkehren durfte, keine Speise kennengelernt ohne Speck. Es gab, soweit ich mich erinnern kann, Speckkaffee, Speckmilch, Speckpudding und Speckmarmelade. Abends auf den Hütten wurde Halma, Mensch ärgere dich nicht und Knobeln mit Speckwürfeln gespielt. Speck, überall Speck. Das hat nichts mit Tradition zu tun, sondern weist eher fundamentalistisch religiöse Züge auf.
Dass seine vegane Lebensweise nicht jedem Bergmenschen gefällt, hat Carsten schon häufig zu spüren bekommen und dass er gegen traditierte Verhaltensweisen lebt, stößt vielen Bergfexen sauer auf. Ein besonders böswilliger Hüttenwirt servierte ihm, nachdem er sich als Veganer geoutet hatte, einen Napf mit trockenem Reis zum Abendessen mit dem Hinweis, dass Reis das einzig Vegane ist, das er auf der Hütte bekommen könnte. Während sich alle anderen an Ochsengulasch, Würschtel, Eiernudeln und Pudding labten, bekam er das Näpfchen Reis vor die Nase gestellt. Ein Affront. „Wie hast du reagiert?“ – „Ich habe mich am nächsten Morgen freundlich für den Reis bedankt“, sagt er. Dass diese Art der Abspeisung auf den Hütten nicht die Regel für den Ausnahme-Bergführer ist, muss natürlich auch gesagt werden. Zwangsläufig kommt er mit vielen seiner Gruppenteilnehmer, mit Bergwanderern und Bergsteigern ins Gespräch und nutzt die Möglichkeit, aufzuklären und vorzuleben.
Eine der Teilnehmerinnen auf einer E5-Bergwanderung, die sich für seine Lebenshaltung, sein ethisches Selbstverständnis und darüber hinaus für noch mehr interessierte, war Nadine, eine begeisterte und begeisternde Fotografin, die er zwei Monate nach unserer gemeinsamen Wanderung kennenlernte. Wer die beiden erlebt, ahnt, dass sie sich nicht gesucht haben. Sie haben sich gefunden – was nur eine Frage der Zeit sein konnte.
Die Hochzeit von Nadine und Carsten im schön gelegenen Mahdtalhaus war ein Traum. Frei von allen Ritualen und Zwängen, von denen Hochzeitsfeierlichkeiten häufig begleitet werden, konnten wir zwei Tage endlich mal nichts tun. Sogar die Landschaft war entspannt. Nicht alle Gäste waren vegan unterwegs, aber alle strahlten, waren bestens gelaunt und genossen die Zeit. Traumhaft schöne Tage. Meditationen ohne Meditation. Erholung pur. Wie schön es ist, wenn die Mahlzeiten bei einer Feier nicht nach Inhalten aus Tierelend abgeklopft werden müssen, wussten wir wieder einen Tag später zu schätzen, als uns auf der Weiterreise in die Schweiz das Frühstück im Hotel serviert wurde. Käse, Wurst, Schinken, Käse, Käse, Wurst, Wurst und – Speck. Was das Hotel-frühstück betrifft, fragen wir schon lange nicht mehr nach Alternativen, wir essen eine Scheibe Brot mit Marmelade, trinken schwarzen Kaffee oder Tee und wenn die Frage auftaucht, ob es nicht geschmeckt hat, antworten wir brav mit einem doooooch, sehr gut.
Wir wissen, dass sich die Idee, deren Zeit gekommen ist, nicht mehr aufhalten lässt und es nur ein Frage von Jahren sein kann, bis keine Lebewesen mehr für Luxus, Spaß und Geschmacksnuancen gequält und getötet werden. Die Zeit, die beim Kampf um ein veganes Frühstück draufgeht, sparen wir uns.
Oft denken wir an Nadine und Carsten und stellen uns dabei vor, wie sie ihre Wandergruppen sicher über die Alpen leiten und ihren Gästen eine Haltung vorleben, die uns allen ein gesundes Sein und eine friedliche Zukunft ermöglichen kann. Zwei Menschen, die konsequent leben und auf ihren Touren über die Berge die Idee der Gewaltlosigkeit verbreiten. Zwei, die Tieren und Menschen mehr und direkter helfen als jeder Appell, der im täglichen Medienrauschen verhallt. Sie bleiben ihren Überzeugungen treu, auch wenn das aktive Vorleben der veganen Lebensweise unter den nicht alltäglichen Bedingungen heftigen Gegenwind provozieren kann – wie Carsten zu berichten weiß.
Gut, dass es Menschen gibt, nach denen wir unseren Kurs ausrichten können. Menschen, die Vorbilder sind. Nadine und Carsten gehören dazu.
ZUR PERSON:
Ulrich Bender...
wurde 1954 im südwestfälischen Siegen geboren, arbeite als Illustrator, Gestalter und Künstler. Und er ist als freier Journalist tätig. Er lebt mit seiner Familie in Siegen.