
Glutenhaltige Vollkornprodukte sind kostbare Nährstofflieferanten – allerdings verträgt sie nicht jeder. Über Sinn und Unsinn einer glutenfreien Kost
von Alexandra Kuchenbaur
SHUTTERSTOCK.COM (3); PR

Wer Klebereiweiß nicht verträgt, muss sich gut informieren.
Für alle anderen aber gibt es keinen Grund, auf Getreide zu verzichten
.
Nach „Low Carb“ und „Paleo“ wird derzeit eine glutenfreie Diät (GFD) als Wunderwaffe gegen Übergewicht, Reizdarmsyndrom und Zivilisationskrankheiten gehandelt. Der Verzicht auf Gluten und damit
auf Getreide soll’s nun richten. Mit vollmundigen Versprechen hält die neue Mode-Diät Einzug in deutsche Speisezimmer. So manch einer setzt Gluten mit Weizen gleich und tauscht diesen durch
Dinkel aus, ohne zu ahnen, dass Dinkelmehl Typ 630 mit 10 300 mg Gluten pro 100 g Mehl sogar mehr Gluten enthält als das Standard-Weizenmehl Typ 405 (8660 mg Gluten pro 100 g Mehl). All dies
führt gerade unter gesundheitsbewussten Veganern zunehmend zur Verunsicherung: Ist Getreide nun plötzlich ungesund und ein Glutenverzicht uneingeschränkt ratsam?
Grundsätzlich gibt es nach der aktuellen Studienlage keinen Nachweis dafür, dass eine glutenfreie Diät deutliche Vorteile für die Allgemeinbevölkerung hat. Ganz im Gegenteil: In der veganen
Ernährung spielen Vollkornprodukte eine signifikante Rolle zur Deckung des täglichen Nährstoffbedarfs. Getreide ist ein bedeutender Lieferant von Kohlenhydraten, Eiweißen, Mineral- und
Ballaststoffen, sekundären Pflanzenstoffen und Vitaminen, besonders von Vitamin E und der B-Vitamine. Nur wenige der vom Menschen benötigten Nährstoffe fehlen im Getreidekorn. Zudem sind
Getreideerzeugnisse preiswert und gut verfügbar. Der Verzehr von Vollkornprodukten steht in Zusammenhang mit einem verminderten Erkrankungsrisiko bei Krebs, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf.
Gluten-Krankheiten
Gluten ist ein Proteinverbund in vielen Getreidesorten, das aus den kleberbildenden Fraktionen Prolamin und Glutelin besteht. Es gibt ein Spektrum an Krankheiten, die mit dem Klebereiweiß in
direkter Verbindung stehen: Zöliakie, Glutensensitivität (eigentlich Nicht-Zöliakie-Gluten-Sensitivität = NCGS) und Weizenallergien.
Zöliakie ist eine ernst zu nehmende Dünndarmerkrankung, verursacht durch den Verzehr von Gluten. In Europa leidet etwa ein Prozent der Bevölkerung an dieser komplexen Störung. Es kommt zu einem
entzündlichen Zugrundegehen der Darmzotten mit Durchfällen, Bauchschmerzen, Nährstoffdefiziten und schweren Mangelerscheinungen mit Muskel- und Knochenschwund, Blutarmut, Entwicklungs-, Hormon-
und Leberstörungen und vielem mehr. Zudem steigt das Risiko für Krebserkrankungen des Verdauungstraktes. Der Nachweis erfolgt über Nährstoffkontrollen im Blut, spezifische Antikörperbestimmung
(gegen Gliadinpeptid, Endomysium, Transglutaminase u. a.) und eine Gewebeuntersuchung der Dünndarmschleimhaut. Ein lebenslanger strikter Glutenverzicht ist Goldstandard der Therapie und bringt
alle Symptome zum Abklingen. Die Zöliakie ist häufig mit dem Auftreten weiterer Immunkrankheiten verbunden; es sind beispielsweise bei Multipler Sklerose stille Zöliakie-Verläufe dokumentiert.
Deshalb sollte bei MS, Rheuma, Typ-1-Diabetes, Reizdarmsyndrom und autoimmuner Schilddrüsenentzündung immer auf Zöliakie getestet werden.
Positiv getestete Patienten sollten unbedingt auf glutenhaltiges Getreide wie Weizen, Gerste, Roggen, Dinkel, Grünkern, Emmer, Einkorn, Urkorn, Kamut und Triticale in allen Zustandsformen
verzichten. Mehl, Flocken, Backwaren, Grieß, Keimlinge, Bulgur, Couscous, Graupen, Nudeln, Brottrunk und Seitan – dieses mittlerweile ja äußerst beliebte Fleischimitat aus Weizeneiweiß – sind in
diesem Fall zu meiden. Da Hafer nur einen geringen Anteil an Prolamin enthält, lassen manche Zöliakie-Gesellschaften Hafer in moderaten Mengen für Zöliakie-Patienten zu. Dennoch belegen neuere
Studien nicht eindeutig, dass Hafer für Zöliakiekranke ohne Risiko ist. Deshalb sollten Betroffene auch Hafer sicherheitshalber weiterhin meiden.
Vor einer glutenfreien Diät sollte immer eine sorgfältige medizinische Diagnose stehen. Löst Gluten Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Kopf- und Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall und Ähnliches
aus, ohne dass im Blut spezifische Antikörper gefunden werden können, spricht man von Glutensensitivität. Bislang gibt es keine Marker, mit der dieses Krankheitsbild klinisch nachgewiesen werden
könnte. Auch sieht die Darmschleimhaut der Betroffenen normal aus. Patienten beobachten allerdings eine Besserung ihrer Symptome durch Meiden oder Einschränken von Gluten im Essen.
Weizenallergiker, die 0,5 bis vier Prozent der Bevölkerung ausmachen, zeigen eine überschießende Immunreaktion speziell auf Weizeneiweiße mit Juckreiz, Atemnot, Bauchschmerzen oder
Hautausschlägen. Es kommt zur Ausschüttung von weizeneiweißspezifischen Antikörpern der Gruppe IgE, die im Blut nachgewiesen werden können. Diese Personengruppe muss auf Weizen und dessen
Verwandte (Dinkel, Grünkern, Einkorn, Emmer, Kamut) verzichten, weil die Möglichkeit eines allergischen Schocks mit Lebensgefahr besteht.
Leben ohne Gluten
In der Praxis ist ein glutenfreier Einkauf eine große Herausforderung: Selbst von Natur aus glutenfreie Produkte wie Nussmehle, Hülsenfrüchte und Pseudogetreide können über Anbau und
Verarbeitungsanlagen mit Gluten verunreinigt sein, wenn beispielsweise in einem Betrieb glutenhaltige Produkte über die gleichen Verpackungsanlagen laufen wie glutenfreie oder Hülsenfrüchte mit
Getreide als Rankhilfe wachsen. Da hilft nur ein genauer Blick auf das Kleingedruckte einer jeden Packung, denn in Deutschland werden solche möglichen Verunreinigungen ausgewiesen. In Mühlen, die
glutenhaltige und glutenfreie Kornsorten vermahlen, kommt es ebenso zum Eintrag von Glutenspuren im eigentlich glutenfreien Produkt.
Gluten ist in zahllosen industriellen Nahrungsmitteln verarbeitet, selbst in solchen, in denen kein Getreidebestandteil vermutet wird. So kann es sich in veganen Fleisch- und Wurstalternativen,
Fertigprodukten, Dressings, Soßen, Suppen, Panaden, Pudding, Eis, Gemüse- und Obstkonserven, Süßigkeiten und Pflanzenmilchwaren verstecken. Auch Pommes frites, fertige Kartoffelteige,
Knabberartikel, Getreidekaffee, Light-Produkte, Gewürzmischungen, Cornflakes, Aromen, Liköre und Biohefe mit Weizen als Nährboden können heimliche Glutenquellen sein.
Glutenfreie Küchenpraxis
Am besten gelingt eine vegane glutenfreie Küche, wenn Sie möglichst viele Speisen selbst zubereiten. Mit unverarbeiteten Lebensmitteln wie Obst, Gemüse, Nüssen, Samen, Früchten, glutenfreien
Getreidearten, Kartoffeln und Hülsenfrüchten lassen sich köstliche Gerichte zaubern. Industrielle Spezialmehle enthalten häufig unerwünschte Zusätze. Wenn man darauf verzichten möchte, braucht
man beim Backen unterschiedliche Komponenten. Da das Klebereiweiß zusammen mit der Stärke in Weizen und Dinkel dafür sorgt, dass das Backgut stabil und feucht bleibt, zusammenhält und locker
aufgeht, müssen beim glutenfreien Backen Zutaten mit diesen Backeigenschaften kombiniert werden.
So sorgen Apfel-, Kürbis- und Bananenmus im Kuchenteig für Feuchtigkeit. Glutenfreie Hefeteige brauchen zum Erhalt der Gärgase kohlensäurehaltiges Wasser und Backpulver. Als homogene Gelbildner
eignen sich Lein- und Chiasamen. Brauchbare Alternativmehle sind aus Mais, Reis, Hirse, Buchweizen, Amaranth und Quinoa. Aber auch Mehle aus Hülsenfrüchten wie Soja, Lupinen, Linsen und
Kichererbsen kommen zum Einsatz sowie Erdmandel-, Hanfsamen- und Traubenkernmehl und Stärke aus Tapioka oder Maniok. Um in Teigen aus glutenfreiem Getreide den Kleber zu ersetzen, kommen bindende
Zutaten wie Johannisbrot-, Pfeilwurzel- oder Guarkernmehl infrage.
Nüsse, Saaten, Kartoffeln und Gemüsepürees können als Teigverbesserer eingesetzt werden. Fett und Protein veredeln die Backeigenschaften und den Geschmack eines Gerichtes. Sojajoghurt, gemahlene
Nüsse, Hülsenfruchtmehle, Öl und Pflanzenmargarine sind deshalb wichtige Zutaten in süßen wie auch herzhaften Rezepten. Zur Teiglockerung eignen sich Hefe, Backpulver, kohlensäurehaltiges
Mineralwasser und Obstessig. Eis wird cremig mit einem Püree aus Bananen, Seidentofu, Tofu, Nussmus oder Sojajoghurt. Suppen werden sahnig mit Mandel- oder Cashewmus. Sämige Soßen erhalten ihre
Bindung mit Wurzel- oder Knollengemüse wie Pastinake, Kartoffel, Petersilienwurzel, Karotte und Sellerie.
Niemand, der Gluten nicht veträgt, muss heute mehr darben. Viele erprobte Rezepte und glutenfreie Produkte machen das Leben ohne Klebereiweiß für Betroffene möglich. Alle anderen dürfen guten
Gewissens Getreide genießen – in dem Bewusstsein, ihrem Körper damit wirklich etwas Gutes zu tun.



// GLUTENFREI-SIEGEL //
Die durchgestrichene Ähre ist das international anerkannte Kennzeichen für glutenfreie Lebensmittel. Hersteller, die das Siegel auf ihren Produkten führen, erwerben es über einen Lizenzvertrag durch die zuständige Zöliakie-Gesellschaft des jeweiligen Landes und müssen strikte Qualitätskriterien erfüllen.