
Aus Stammzellen gezüchtetes Fleisch könnte schon bald den Weltmarkt revolutionieren und das massenhafte Tierleid beenden
von Niko Rittenau
FOTO: ORAZIOPUCCIO - STOCK:ADOBE:COM; MAASTRICHT UNIVERSITY/DAVID PARRY/PA WIRE (4); © KARSTEN WERNER
Der Welt läuft die Zeit davon, um den ausufernden und ressourcenintensiven Konsum der wachsenden Weltbevölkerung einzudämmen. Bis ein überwiegender Teil der Welt „veganisiert“ würde – wenn dies überhaupt jemals passieren wird –, wird es das Ökosystem vermutlich nicht mehr mitmachen. Ganz zu schweigen von der unlösbaren Aufgabe, mit den heutigen Möglichkeiten die zehn Milliarden Menschen starke Weltbevölkerung im Jahr 2050 mit so viel tierischen Produkten zu versorgen, wie sie verlangen wird. Rein rechnerisch hat die Erde nicht genügend Ackerflächen für so viele Futtermittel und nicht genügend Platz für so viele Tiere, wenn auch der Mensch noch einen eigenen Lebensraum für sich beansprucht.
Schlachtung von Milliarden: Tendenz – noch – steigend
Weltweit werden jährlich laut dem von der Heinrich-Böll-Stiftung in der deutschen Fassung herausgegebenen „Fleischatlas“ etwa 60 Milliarden Landtiere für den menschlichen Konsum geschlachtet – und die Tendenz ist weiter steigend! Und dabei sind Meerestiere noch gar nicht mitgerechnet. Wie kann die weltweit steigende Gier nach Fleisch mit der Gewährleistung der Nahrungssicherheit der wachsenden Weltbevölkerung, dem Schutz der Umwelt und ihrer begrenzten Ressourcen sowie der Vermeidung von Tierleid einhergehen? Die Antwort kann lauten: „Cultured Meat“.

In-vitro: zehn Tonnen Fleisch aus einer einzigen Stammzelle
Die Idee hinter „Cultured Meat“ bzw. „In-vitro Meat“ oder „Clean Meat“ ist einfach erklärt. Anstatt Muskelfleisch in einem ressourcenverschwendenden Vorgang im Körper des Tieres wachsen zu lassen, entnehmen Wissenschaftler eine Muskelstammzelle und lassen diese unter kontrollierten Bedingungen außerhalb des Tierkörpers weiterwachsen. So muss das Tier für sein Fleisch nicht sterben und man kann aus einer einzelnen Stammzelle etwa 10 000 Kilogramm Fleisch produzieren. Aus den etwa 60 Milliarden Tieren, die Jahr für Jahr gezüchtet und geschlachtet werden, könnte man wenige Tausend machen, die für ihr Fleisch auch nicht ums Leben kommen würden. Was auf den ersten Blick „unnatürlich“ erscheinen mag, ist nicht mehr oder weniger natürlich als die industrielle Massentierhaltung, die notwendig ist, um Fleisch in so großer Menge zu derzeitigen Preisen zu produzieren. Es ist aber tierfreundlicher, verbraucht viel weniger an Land, Wasser und Energie und weist einen wesentlich kleineren CO2-Fußabdruck auf. Eventuell kann es zukünftig sogar eine bessere Fettsäuren-Zusammensetzung als herkömmliches Fleisch aufweisen. Das macht große Mengen Fleisch nicht zum „Health Food“, aber es kann sie weniger nachteilhaft machen.
2013: erster Cultured-Meat-Burger für über 200 000 Euro
Im Jahr 2013 fiel das Schlagwort „Cultured Meat“ zum ersten Mal im größeren öffentlichen Kontext, als in London vor einer Gruppe internationaler Journalisten ein Burger aus echtem Rindfleisch verkostet wurde, der außerhalb des eigentlichen Rinds wuchs. Der von Dr. Mark Post, einem Pharmakologen und In-vitro-Forscher am Physiologischen Institut der Universität Maastricht, und seinem Team hergestellte Burger kostete damals noch über 200 000 Euro in der Herstellung und benötigte neben der Stammzelle eines Tiers auch noch fötales Kälberserum und Kollagen-Gel. Er war damit noch weit entfernt von einer tierfreundlichen und kostengünstigen Alternative zu herkömmlichem Fleisch. Aufgrund des fehlenden Fettanteils der In-vitro-Muskelzellen konnte der Burger laut den Verkostern auch noch nicht ganz mit einem im Tier gewachsenen Produkt mithalten, und auch die Journalisten waren gegenüber der Neuentwicklung eher skeptisch und zurückhaltend.
2017: Quantensprung auf nur noch acht Euro
Ein Zeitsprung in das Jahr 2017: Dr. Mark Post taucht erneut auf der Bildfläche auf, als er in der wegweisenden Dokumentation „The End of Meat“ von Marc Pierschel von den Quantensprüngen der letzten Jahre in Sachen „Cultured Meat“ berichtet, die seit der Erstveröffentlichung in London unternommen wurden und die er wenige Wochen später auch im Rahmen des „Plant Based Symposium“ weiter im Detail erklärt. Mittlerweile können sowohl das fötale Kälberserum als auch das Kollagen-Gel durch nicht tierische Materialien ersetzt werden – und man rechnet damit, dass der Burger mit dem Stand der aktuellen Technik um etwa acht Euro zu verkaufen sein werde. Das ist immer noch mehr als ein herkömmlicher Burger, aber Dr. Post und sein Team sind zuversichtlich, dass der Burger bis zum Jahr 2020 bereits im Verkauf stehen und der Preis sich im Laufe der Zeit so weit reduzieren wird, dass er mit Fleisch aus industrieller Massentierhaltung konkurrieren kann. Erste repräsentative Umfragen der vergangenen Monate ergaben eine erstaunlich gute Resonanz und große Offenheit vonseiten der „eingefleischten“ Esser in Bezug auf „Cultured Meat“.

Bedeutung für die vegane Bewegung und die Welt
Wie auch in der Diskussion im Rahmen der Kinopremiere von „The End of Meat“ in Berlin deutlich wurde, teilt diese Entwicklung die vegane Community offensichtlich in zwei Lager. Das eine Lager fordert aus gutem Grund nicht größere Käfige oder weniger Tierleid, sondern keine Käfige und kein Tierleid und lehnt diese Entwicklung in der Sorge ab, dass es nichts an der Grundeinstellung von Menschen gegenüber Tieren ändern wird. Alle, die dieser Meinung sind, haben wahrscheinlich auch recht, ihnen fehlt aber gleichzeitig eine realistische Alternative zur Lösung dieses globalen Problems. Die andere, laut Umfragen auf Facebook und anderen sozialen Medien offenbar größere Hälfte, sieht stärker das Potenzial dieser Technologie, das Leid von Milliarden von Tieren und die verheerenden Umweltschäden weltweit innerhalb weniger Jahre auf ein Minimum zu reduzieren.
Der Entwicklung sollte man sich als Veganer nicht verschliessen
Natürlich klingt eine konsequente Haltung mit der Forderung der sofortigen Abschaffung der Tiernutzung besser, aber es ist mit großer Wahrscheinlichkeit unrealistisch und fördert indirekt mehr Leid, indem man sich solchen Entwicklungen verschließt. Denn diese sind ganz klar in der Lage, in verhältnismäßig kurzer Zeit jährlich Milliarden von Tieren vor dem Tod und einem qualvollen Leben davor zu bewahren. Bei so geringen Zahlen an benötigten Tieren zur Fleischerzeugung mit „Cultured Meat“ können jene Tiere außerdem unter vollkommen anderen, viel besseren Bedingungen leben.
Tierische Produkte ohne Tier: Die Zukunft hat begonnen
Diese Technologie von Pionieren wie unter anderem „Memphis Meats“ (Fleisch), „Super Meat“ (Hühnerfleisch), „Finless Foods“ (Fisch) und dem von Dr. Mark Post gegründeten Unternehmen „Mosa Meat“
(Rindfleisch) kann zukünftig Fleisch von Land- und Meerestieren vollkommen ersetzen. Durch die weitere Arbeit etwa von Unternehmen wie „Perfect Day“ (Milch), „NotCo“ (Milchprodukte),
„Hampton Creek“ (Ei), „Clara Foods“ (Eiklar), „Geltor“ (Gelatine), „New Wave Foods“ (Shrimps) und „Modern Meadow“ (Leder) werden auch andere tierische Produkte bald unabhängig vom Tier produziert
werden.
Dr. Post plädiert stark dafür, dass vegan lebende Menschen weiterhin ihrem Lebensstil treu bleiben, schon weil ressourcenschonenderes „Cultured Meat“ vermutlich niemals so effizient produziert
werden kann wie rein pflanzliche Nahrungsmittel. Aber es kann jenen Appetit der Welt nach Fleisch befriedigen, für den Fleischersatzprodukte und pflanzliche Ernährung leider keine gleichwertige
Alternative darstellen.
In wenigen Jahrzehnten werden unsere Kinder uns sehr wahrscheinlich mit großen Augen ansehen und ungläubig den Kopf schütteln, wenn wir ihnen erzählen, dass noch vor kurzer Zeit Menschen Tiere
getötet haben, um deren Fleisch zu essen, wo es doch diese viel leichtere, effizientere, sauberere und weniger grausame Methode gibt, um Fleisch zu produzieren. Menschen werden global vielleicht
tatsächlich niemals aufhören, Fleisch zu essen. Aber es kommt ohne Zweifel ein Zeitpunkt in naher Zukunft, von dem an für Fleisch kein Lebewesen mehr sterben muss.
WEB-TIPP:
„Fleisch aus Zellkulturen: ein Überblick“.
www.albert-schweitzer-stiftung.de – zu finden auf der Startseite unter „Aktuell“,
oder in die Suchmaske „Zellkulturen“ eingeben.

// ZUR PERSON //
Niko Rittenau (25) ist studierter Ernährungsberater mit dem Fokus auf pflanzliche Ernährung.
Der gebürtige Kärntner und Wahl-Berliner zeigt in Vorträgen, Seminaren und Kolumnen seine Version von bedarfsgerechter Ernährung für eine wachsende Weltbevölkerung und fördert die Achtsamkeit
gegenüber hochwertigen Lebensmitteln. Im Rahmen des von ihm initiierten „Plant Based Symposium“ kommen neben Dr. Mark Post noch 20 weitere Ernährungsexperten digital zusammen, um in 30- bis
60-minütigen Videos über Themen rund um pflanzliche Ernährung zu sprechen. Alle Videos gibt’s kostenlos auf YouTube.
Mehr Infos: www.nikorittenau.com/the-plant-based-symposium